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Das haben wir nicht erwartet – Autorenlesung am Gymnasium an der Heinzenwies ohne den Autor Jan Cole
Angekündigt war den Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 8 und 10 eine Autorenlesung zum Jugendroman „Was du nicht erwartest“ von Jan Cole. Jan Cole – also ein männlicher Autor. In der Aula des Heinzenwies Gymnasiums tauchte dann am Dienstag, dem 19. November 2024, aber eine junge Frau namens Liv K. Schlett auf der Bühne auf und setzte sich an den Autorentisch. Das hatte erstmal niemand erwartet. Schnell war man sich einig, dass es sich bei Jan Cole um ein Pseudonym handeln müsse, aber da lagen wir falsch. Jan Cole war gar nicht real, sondern eine Figur aus dem Roman! Auch das hatte niemand erwartet. Und so machte der Buchtitel schon vor Beginn der eigentlichen Lesung seinem Namen alle Ehre.
Liv K. Schlett stellte auch von Anfang an klar, dass dieses Spielen mit der Erwartungshaltung des Lesers Absicht war. Die introvertierte junge Frau, die in Hildesheim kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studiert, kam über das Thema „Etikettenschwindel“ auf die Idee für ihren Debütroman, der bereits den rheinland-pfälzischen Jugendliteraturpreis erhielt. Diese Grundidee baute sie mit Hilfe persönlicher, fast intimer, Erfahrungen detailliert aus. Insgesamt erfuhren die Schülerinnen und Schüler während der Lesung viele private Details aus dem bewegten Leben der Autorin, die damit die jugendlichen Zuhörenden in ihren Bann zog – gerade aufgrund ihrer Offenheit, die so wohl auch niemand erwartet hatte.
Entstanden ist ein zum Teil multiperspektivischer Roman über den 17-jährigen Nik und die 18-jährige Mai, die sich in einer Jugendpsychiatrie kennenlernen. Nik ist ein Autist, wie er im Buche steht: Er zählt Dinge (Schritte, Sekunden etc.), erträgt keine Berührungen, kann sich die Namen seiner Klassenkameraden nicht merken, mag Ordnung, Wörterlisten und Regeln, die er sich auch schon mal selbst auferlegt, wenn für bestimmte Situationen keine vorhanden sind. Auf Abweichungen von seiner Routine reagiert Nik mit Verwirrung und Überforderung. Und genau einer solchen Abweichung begegnet er eines Morgens an einer S-Bahn-Station in Berlin auf dem Weg in die Schule, und zwar in Form eines Mädchens, das in einem Buch von Jan Cole liest. Er nennt das Mädchen Stella, weil er Dinge, die keinen Namen haben, nicht mag. Es verwirrt Nik, dass ihn das Mädchen interessiert und nach einer längeren Sprechstunde bei Doktor Google geht er davon aus, dass er verliebt ist. Um die vermeintliche Diagnose zu verifizieren, begibt er sich nach der Schule an die besagte S-Bahn-Station, um Stella wiederzusehen. Dort harrt er ohne Erfolg und ohne vorher seiner Mutter Bescheid gegeben zu haben, die ganze Nach lang aus. Dieses Ereignis nimmt diese, die schon länger Probleme damit hat, mit ihrem Sohn umzugehen, als Anlass, um Nik in eine jugendpsychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Da in besagter Klinik eigentlich alles eine Abweichung von Niks Routine ist – der Tagesablauf, die Menschen, die Einrichtung des Zimmers, das Gewicht der Bettdecke, der Geruch usw. – kommt er dort gar nicht gut zurecht.
Der 18-jährigen Mai, die eigentlich Maike heißt, geht es genauso. Mai wird in der Jugendpsychiatrie wegen ihrer Magersucht behandelt, aber sie setzt alles daran, um einen Therapieerfolg zu verhindern. Über ihre gemeinsame Abwehrhaltung der Klinik gegenüber freunden sich die sehr verschiedenen Jugendlichen miteinander an und fassen den Plan, aus der Klinik auszubrechen. Mai, weil sie nicht mehr zum Essen gezwungen werden will, und Nik, weil er noch immer an Stella denken muss und einen Plan ausgeheckt hat, wie er sie vielleicht finden kann. Und hier kommt jetzt auch endlich Jan Cole ins Spiel. Nik hat nämlich herausgefunden, dass dessen Bücher in Frankfurt verlegt und gedruckt werden. Und so machen sich Nik und Mai per Anhalter auf den Weg Richtung Frankfurt.
Wie genau dieser Plan aussieht, was sich Nik von dem Besuch in Frankfurt erhofft und ob es ein Happy End für die beiden Protagonisten gibt, verrät die Autorin natürlich nicht. Wo bliebe sonst die Spannung beim Lesen? Wenigstens das war zu erwarten gewesen.
In der anschließenden Gesprächsrunde stellten die Schülerinnen und Schüler viele Fragen zum Schreibprozess an sich und zum Leben als Autor, was vielleicht darauf schließen lässt, dass sich unter den Zuhörenden doch der eine oder die andere aufstrebende Nachwuchsautorin befindet. Allerdings wirkten die ehrlichen Antworten von Liv K. Schlett insgesamt eher ernüchternd, wenn nicht sogar demotivierend. Die Schülerinnen und Schüler mussten erfahren, dass die Veröffentlichung eines Romans viel mit Glück zu tun hat und auch mehrere Anläufe braucht. Außerdem verdient ein Autor an jedem verkauften Buch nur 7%, während der Buchhandel 50% kassiert. Bedenkt man nun, dass der Jugendroman „Was du nicht erwartest“ 18 Euro kostet, kann sich jeder ganz schnell ausrechnen, dass man vom Bücherschreiben meistens nicht reich wird. Dass es zum Teil vielleicht nicht einmal ausreicht, um davon leben zu können. Und trotzdem: Was würden wir machen, wenn es nicht Menschen wie Liv K. Schlett gäbe, die sensibel sind, Durchhaltevermögen und Geduld haben sowie die Welt mit Offenheit genau beobachten und diese Beobachtungen dann in spannende und berührende Geschichten packten? All diese Eigenschaften braucht es nämlich laut der Autorin, um Bücher zu schreiben. Das Aussterben des Autorenberufs ist glücklicherweise etwas, was wir in nächster Zeit nicht erwarten müssen. Liv K. Schletts nächster Roman erscheint nämlich im Herbst 2025. Und vielleicht können wir sie dann wieder in der Aula des Gymnasiums an der Heinzenwies willkommen heißen. Es würde uns freuen, aber erwarten tun wir es nicht.