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Seneca, Kommunikationsprobleme und die Madeira-Mauereidechse – Abitur unter Pandemiebedingungen

Am 25. Januar konnten alle aufatmen – Abiturientinnen und Abiturienten, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und die Schulleitung. Die letzte schriftliche Abiturprüfung am Gymnasium an der Heinzenwies war geschrieben und alles war gut gegangen: Keiner war in den zweieinhalb Prüfungswochen krank geworden, keiner musste in Quarantäne und trotz Schnee in den Höhenlagen des Hunsrücks konnten immer alle pünktlich die Schule erreichen. Dennoch wird das Abitur 2021 ein denkwürdiges Abitur bleiben, das keiner der Beteiligten so schnell vergessen wird. Ein Abitur unter Pandemiebedingungen, mit strengsten Hygieneregeln: Der Abstand zwischen den einzelnen Plätzen musste streng mit Metermaß ausgemessen werden: Noch vor einem Jahr hätte sich das niemand vorstellen können.

Und trotz den widrigen äußeren Bedingungen mussten es die Abiturientinnen und Abiturienten auch in diesem Jahr schaffen, sich auf die anspruchsvollen Aufgaben zu konzentrieren, die ihnen vorgelegt wurden. Traditionell begann das Fach Deutsch. AbiturientInnen, Abiturient°innen oder Abiturient_innen oder eine neutrale Konstruktion wie „Menschen, die Abitur machen“? Macht es Sinn, geschlechterneutral zu formulieren oder ist das „Gender-Gaga“? Diese Frage stellte der zentral vom Bildungsministerium ausgesuchte Text. Wer sich nicht mit bizarren neuen Wortkreationen auseinander setzen wollte, konnte alternativ zur Lyrik greifen und Alfred Lichtensteins expressionistisches Gedicht „Regennacht“ mit dem romantischen Gedicht „Der Einsiedler“ von Joseph von Eichendorff vergleichen. Schließlich gab es noch die zweite Alternative, sich unter Einbezug verschiedener wissenschaftlicher Kommunikationsmodelle mit den Kommunikationsproblemen des Ehepaars Vera und Helge aus Sibylle Bergs Kurzgeschichte „Vera sitzt auf dem Balkon“ zu beschäftigen. In Latein galt es wenige Tage später einen Text des römischen Philosophen Seneca zu übersetzen, zu interpretieren und ausgehend von Seneca über die Politikverdrossenheit junger Menschen nachzudenken. Spürten also schon die sprachlichen Fächer Deutsch und Latein gesellschaftsrelevante Fragestellungen nach, so forderte dies der Text im Fach Englisch ganz deutlich: Der Tod des Afro-Amerikaners George Floyd im vergangenen Jahr, Polizeigewalt in Amerika und die Black Lives Matter-Bewegung rückten hier in den Fokus.

Wie wichtig medizinische Forschung ist, hat uns die Corona-Pandemie vor Augen geführt. Da passte es, dass sich auch gleich zwei Naturwissenschaften mit medizinischen Fragestellungen auseinandersetzten. Wieder hatten die Schülerinnen und Schüler die Wahl: In Physik konnten sie sich mit medizinischer Physik beschäftigen: Der Compton-Effekt, der zur Diagnose von Knochenerkrankungen wie Osteoporose eingesetzt wird, musste ebenso erläutert werden wie der Hall-Effekt, der zur Messung des Blutflusses ausgenutzt wird. Wem dies zu medizinisch war, der konnte sich auch der „Beschwingten Physik“ widmen. In Biologie hingegen konnte man medizinischen Fragestellungen gar nicht erst ausweichen. Entweder man beschäftigte sich mit der hochinteressanten Madeira-Mauereidechse, die die Einwohner Madeiras vor der Krankheit Borreliose schützt oder man untersuchte die Erbkrankheit Phenylketonurie genauer.

Die Mathematik blieb in Heimatnähe. Im Bereich der linearen Algebra mussten die Schülerinnen und Schüler die Kundenströme der beiden fiktiven Idar-Obersteiner Metzgereien Spieß und Braten berechnen. In der Stochastik-Aufgabe stießen die Abiturientinnen und Abiturienten dann auf einen Investor, der einen Windpark in der Nähe eines Hunsrückdorfes im Kreis Birkenfeld errichten will. Natürlich gibt es in dem Dorf, das aus Ober- und Unterdorf besteht, Windkraftgegner und –befürworter. Zu berechnen war nun beispielsweise die Wahrscheinlichkeit P1, dass eine ausgewählte Person aus dem Oberdorf kommt und ein Windkraftgegner ist.

Den Abschluss bildeten in diesem Jahr die Gesellschaftswissenschaften. Dabei konnte man sich im Bundestagswahljahr 2021 entweder mit dem Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland und der Wahlrechtsreform beschäftigen oder das Parkett der internationalen Politik betreten und dort die „weltpolitische Großbaustelle“ UN analysieren. Aber auch die Geographen bekamen es mit einem der großen Weltprobleme zu tun: der nachhaltigen Sicherung der Welternährung. Wie vielschichtig dieses Problem ist, mussten die Prüflinge am Beispiel Kambodschas aufzeigen, wo Landgrabbing den einheimischen Bauern das Leben schwer macht. Wer thematisch lieber in Europa bleiben wollte, konnte versuchen eine Antwort auf die Frage „Ist Venedig wehrlos?“ zu finden. Doch auch hier gab es keine einfachen Antworten, denn die Traumstadt vieler Touristen kämpft mit aqua alta, Massentourismus und neuerdings auch mit der Coronapandemie. Nachdenklich stimmte da schon das den Abiturientinnen und Abiturienten vorgelegte Zitat von Hans Magnus Enzensberger: „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet.“ In die europäische Vergangenheit blickte das Fach Geschichte, genauer gesagt, ins 19. Jahrhundert: Wiener Kongress, die Revolution von 1848/49 bis hin zur Gründung des deutschen Kaiserreichs standen hier auf dem Plan. Wer es internationaler mochte, konnte sich alternativ mit dem Kalten Krieg beschäftigen und die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion zwischen 1950 und 1970 untersuchen.

Vielfältig wie das tägliche Weltgeschehen waren auch in diesem Jahr wieder die schriftlichen Abiturprüfungen, jetzt folgen – hoffentlich bei ebenso guter Gesundheit – noch die mündlichen Prüfungen im März. Und ein dicker Wehmutstropfen ist natürlich, dass auch in diesem Jahr keine traditionelle Abifeier im Stadttheater möglich sein wird.

(Francesca Schmidt)